Rezension – Michelle Ross: Die verlorene Zeit

Bewertung: 4 von 5.

Schmöker mit ungewöhnlicher Frauengeschichte ▪️

Die junge Amerikanerin Dinah kann es nicht glauben: Ihre Urgroßmutter soll Anfang des 20. Jahrhunderts als Mörderin hingerichtet worden sein! Gegen den Willen ihrer Eltern macht sie sich auf nach Cornwall, um das Rätsel um die Vorfahrin zu lösen, und deckt einen unglaublichen Skandal auf. (Verlagsinfo)

Es gibt Bücher, die nimmt man eher skeptisch zur Hand.So wie in diesem Fall. Name der Autorin, Cover und Titel machten den Eindruck eines x-beliebigen Schmökers speziell für Frauen. Es ist ein Schmöker für Frauen – aber ein wirklich fesselnder!

Frauen, die das Rätsel / ein Geheimnis / die Vergangenheit ihrer Vorfahren lüften wollen, sind ein beliebtes Thema, das mal besser, mal schlechter umgesetzt wird. In diesem Fall ist es Dinah, Tochter aus gutem Hause in San Francisco, die einen spannenden Fund macht: Einen Zeitungsbericht aus dem Jahre 1904, der schildert, wie ihre Urgroßmutter Ellen Townsend in jenem Jahr in England hingerichtet wurde. Aber – wie konnte sie dann wenig später nach Amerika auswandern und zur Ahnin der Familie werden?

Eine Frage, die auch die Leserin interessiert. Und die zum Weiterlesen animiert – denn jene Buch-Passagen, in denen es um die Gegenwart und um Dinah geht, sind die schwächsten. Ein bisschen eindimensional wird die junge Frau dargestellt; ihre Rebellion gegen den starken Vater mit hohen politischen Ambitionen wirkt sehr kindlich, die Schilderungen sind sehr simpel, ebenso die des gesellschaftlichen Lebens der höheren Kreise in der amerikanischen Westküsten-Stadt.

„Du weißt, ich mach mir nichts aus dem Blubberwasser der Reichen“, erklärt die junge Heldin. Nun, die Worte aus dem Munde eines 24-jährigen Mädchens, das von der Kreditkarte des Vaters sehr gut lebt, klingen einwenig schräg. Und wenn ein junger Anwalt sagt: „Nicht, das ich etwas gegen Jeans hätte… aber durch unsere Kleidung heben wir uns doch vom allgemeinen Pöbel ab“, ergibt das ein sehr holzschnittartiges Bild.

Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart

Doch dann reist Dinah (gegen den Willen ihrer Eltern) nach Cornwall und der Leser mit ihr zurück ins Jahr 1904. In der Vergangenheit läuft Michelle Ross – die unter diversen anderen Namen zahlreiche Bücher geschrieben hat – zu Hochform auf. Die Lebenssituation der Dienstboten zu jener Zeit ist beispielsweise sehr gut und detailliert dargestellt; ebenso wie die des Hochadels. In ein und demselben Haus lebten sie in völlig unterschiedlichen Welten, mit unterschiedlichen Hauseingängen, Fluren und Raumausstattungen.

Geschickt wird zwischen Gegenwart und Vergangenheit gewechselt; nur peu a peu das Geheimnis gelüftet. Zwar beschleicht die Leserin immer mal wieder eine Ahnung, wie das Ende aussehen könnte – aber man muss schon bis zur letzten Seite lesen, um die Geschichte ganz zu kennen. Das ist sehr geschickt und sehr spannend aufgebaut! Und die Auflösung dann doch eine unerwartete… 

Viel mehr kann an dieser Stelle nicht über den Inhalt gesagt werden, denn es würde der Lektüre Vieles an Spannung nehmen. Was die Bewertung anbelangt, habe ich lange mit mir gerungen: Viereinhalb Sterne, eigentlich fünf – aber  wegen der simplen Gegenwartsschilderungen ein kleiner Abzug. 

Michelle Ross, „Die verlorene Zeit“

592 Seiten, 9.99 Euro, Knaur TB, VÖ 1. November 2013

Ab hier: Anmerkungen für jene, die das Buch kennen

Für alle, die das Buch schon gelesen haben, noch ein paar Anmerkungen weiter unten.

Ob ein Dienstmädchen tatsächlich in die Rolle einer Adeligen schlüpfen kann – auch wenn sie ihre Zwillingsschwester ist – das ist bei Ähnlichkeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts sicher schwierig. Zu unterschiedlich sind die Lebenswelten damals.  Aber darum ist Ellen auch belesen und intelligent und kann etliche Klippen des Rollentausches auf diese Weise umschiffen. Fraglich ist allerdings, ob sich eine Frau aus dem englischen Adel tatsächlich prostituieren würde.

„Sie sehen, was sie sehen wollen“, stellt sie sehr treffend fest über die Menschen ihrer Umgebung fest. 

Nicht ganz stimmig erscheint zunächst, dass Belinda – verwöhnt und mit einem Faible für schöne Garderobe – freiwillig in Armut lebt. Ebenso wie ihr Hang, sich sexuell auszuleben, nicht so recht in jene Zeit vor mehr als hundert Jahren passt. Aber die junge Frau hat einen starken Freiheitsdrang; so dass ihr Handeln auf diese Weise wieder nachvollziehbar ist.

Fazit

Unerkannt illegitime und/oder vertauschte Kinder gab es vor der Erfindung des Gen-Tests sicher sehr oft. Insofern ist dieser Teil der Geschichte ausgesprochen realistisch. Dieser Aspekt ist nicht neu als Grundlage eines Romans, aber bemerkenswert sind die zwei starken Frauengestalten und die Auflösung des Rollentausches. 

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