Natur – das sind keine sauber gemähten Rasenflächen. Das sind Gräser und Blumen, die Insekten Nahrung bieten. Das zu verstehen und Unordnung im Garten zu akzeptieren, ist ein Lernprozess, der in unserer Gesellschaft gerade in Gange ist. Katrin de Vries (Jahrgang 1959) hat lange Jahre herkömmlich gegärtnert. Doch ihr Bild von einem schönen Garten hat sich gewandelt.
Verlagsinfo
Als Katrin de Vries nach Jahren in der Großstadt zurück in ihre Heimat zieht, in ein Backsteinhaus in Ostfriesland, zu dem auch ein großer Garten gehört, ist sie noch überzeugt: Rasen gehört gemäht, Unkraut gejätet und morsche Bäume sollten gefällt werden. Doch nach und nach ändert sich ihre Vorstellung von Naturschönheit, ja von Natur überhaupt, und sie wagt einen neuen Ansatz: Statt den Garten nach herrschenden Vorstellungen zu gestalten, lässt sie den Bäumen, Gräsern, Büschen und Blumen vor ihrer Haustür freien Lauf. Und während es um sie herum wächst, wimmelt und sprießt, beobachtet sie und lernt – und muss dabei unweigerlich an ihre Großeltern denken, für die der Garten noch eine ganz andere Bedeutung hatte.
Der Garten der Großeltern
Garten bedeutete vor 60 Jahren Arbeit und Ernte – nicht Erholung. Entsprechend anders sahen die damaligen Gärten aus. Und das Gelände neben dem Garten bot noch Wildpflanzen die Möglichkeit zur Entfaltung. Ihre Großeltern waren Landarbeiter. Der Küchenofen wurde noch mit Briketts geheizt, Regenwasser in einer Zisterne aufgefangen. Der Garten diente der Selbstversorgung: Kartoffeln, Kohl, Bohnen.
„Tuffels sünd in’t Keller, Briketts sünd in’t Stall, de Winter kann komen«, sagten meine Großeltern dann. Nach zwei Weltkriegen bedeutete dies keinen Wohlstand, aber zumindest die Abwesenheit von bedrängendem Mangel. Und das alles ist kaum mehr als eine Handvoll Jahrzehnte her. Außer den Erinnerungen ist davon fast nichts geblieben. Aber es ist die Kultur, der ich entstamme und an die ich mich in vielen Einzelheiten erinnere.“
Alle Zitate aus dem Buch
Anschaulich schildert Katrin de Vries das Leben ihrer Großeltern und deren Bezug zur Natur. Sie selbst hat dieses Leben als Kind kennengelernt. Ihr Verhältnis zur Natur war geprägt von harter Arbeit. Und der Garten bedeutete ebenfalls Arbeit, nicht Müßiggang. Blumen waren dort nicht zu finden.
„Es hatte etwas von einer Selbstkasteiung. Meine Großmutter wusste gar nicht, wie es ist, Blumen zur Zierde zu haben, einfach nur die Schönheit von Pflanzen zu genießen, die ohne unmittelbaren Nutzen sind. Es war, als hätten Armut und Kargheit sich in die Menschen eingegraben. Als dürfe man gar kein anderes Verhältnis zu Pflanzen pflegen.“
Dieser Rückblick ist sehr interessant und ist ein wichtiger Teil des Buches. Denn oftmals wissen wir gar nicht mehr, wie Landleben noch in den 50er und 60er Jahren aussah.
Über unseren Umgang mit der Natur
Dann ziehen Katrin de Vries und Familie in ein großes rotes Backsteinhaus aus dem Jahre 1893. Mit einem – für unsere heutigen Verhältnisse – riesigen Garten: dreitausend Quadratmeter. Anfangs ist für die Autorin noch klar: Rasen gehört gemäht. Dem Thema Rasen hat die Autorin viele Zeilen gewidmet. Aus gutem Grund. Dort wo ich jetzt wohne, in der Wesermarsch nahe Ostfriesland, muten die Grundstücke vor den Häusern fast amerikanisch an: glatte, große Rasenflächen. An Langeweile nicht zu überbieten und ökologisch so sinnvoll wie grün angestrichener Beton. Mein Wohnort ist nur knapp 100 Kilometer von dem der Autorin entfernt. Doch nicht nur an der niedersächsischen Nordseeküste gilt Rasen als das Non-plus-Ultra eines gepflegten und ansehnlichen Gartens, sondern überall in Deutschland.
Doch die konventionelle Betrachtung der Gärtnerin wandelt sich – nicht zuletzt durch ihre großen Söhne angeregt. Katrin de Vries beginnt zu beobachten, sie lässt wachsen und hinterfragt den heute gängigen Umgang mit der Natur. Der Rasen wird nicht mehr gemäht, nur noch Wege. Auf dem übrigen Areal wachsen mehr und mehr Wildkräuter. Denn die Pflanzen dürfen jetzt wachsen. Sogenanntes Unkraut wird nicht gleich eliminiert. Absterbende Bäume werden nicht gleich abgeholzt, sondern dürfen als Unterschlupf und Nahrung für Tiere dienen. Dadurch erhält das Grundstück ein völlig anderes Aussehen. So bleibt einmal ein alter Nachbar stehen und freut sich, dass Blumen, die in seiner Kindheit und Jugend überall wuchsen, hier jetzt plötzlich wieder sprießen.
Wir wollen beherrschen. Die Natur nach unserem Willen gestalten. Und vergessen darüber oft, dass wir nur ein winziger Teil dieser Natur sind. Das hat Katrin de Vries sehr eindrucksvoll beschrieben. Und sie hat die totale Kontrolle aufgegeben.
„Das Wichtigste ist das Hinschauen. Gehe immer wieder durch den Garten und beobachte nur. Betrachte. Sieh hin. Sieh genau hin. Das ist das Allerwichtigste.“
Wenn wir beobachten (übrigens ein wichtiger Prozess beim Gärtnern mit Permakultur), dann gibt es plötzlich unheimlich viele interessante Pflanzen zu bestaunen. Zum Beispiel Kräuter und andere essbare Pflanzen. So hat die ostfriesische Gärtnerin irgendwann keinen Frühjahrssalat mehr ausgesät.
„Den Frühling und Sommer über haben wir genug von dem, was ohne unser Zutun hochkommt. Inzwischen koche ich die Wildpflanzen manchmal auch als Gemüse. Es wächst so viel an Giersch, Knoblauchrauke, Taubnessel, Vogelmiere, Labkraut, dass es für viele Mahlzeiten reichen würde.“
Ein spannender Prozess. Etliches ist in einem herkömmlichen Garten mit knapp 300 Quadratmetern sicherlich nicht umsetzbar, zum Beispiel, Bäume langsam sterben zu lassen, statt sie abzuholzen. Aber weniger Rasen und mehr Wiese sind schon ein wichtiger Schritt.
Die Autorin
Katrin de Vries wurde am 1. Januar 1959 in Heinitzpolder geboren. Die sogenannte Deichreihensiedlung gehört zum Ortsteil Dollart, der wiederum zur Gemeinde Bunde im ostfriesischen Rheiderland zählt. Hier lebt sie inzwischen wieder, mit ihrem Mann, dem Autor Georg Klein. Das Paar hat zwei inzwischen erwachsene Söhne.
Als freie Autorin schreibt sie neben Hörspielen und Theaterstücken Romane und kürzere Prosa, unter anderem „Der Leib der Damen” (Schwartzkopff Buchwerke, 2004). Zu ihren Texten schuf Anke Feuchtenberger drei viel beachtete Comics um die Kunstfigur Hure H.: „Die Hure H.” (1996), „Die Hure H. zieht ihre Bahnen” (2003) und „Die Hure H. wirft den Handschuh” (2007) – daneben 1999 bei Jochen Enterprises „Die kleine Dame”. Die drei Comics um Hure H sind bei Reprodukt als Gesamtausgabe erschienen (Quelle: Reprodukt)
Interview mit Katrin de Vries im dtv-Magazin
Rezension zum Buch beim WDR
Fazit
Ein stellenweise philosophisches Buch, das sehr gut zu lesen ist und zum Nachdenken anregt. Eine Lektüre, die ich jedem Gartenbesitzer empfehlen kann. In der Hoffnung, dass sich unser Umgang mit der Natur schnell ändert.
„Ein Garten offenbart sich“, Katrin de Vries,
240 Seiten, 24 €, dtv, VÖ 15. Februar 2024
Am 1. April als Taschenbuch
Das Rezensionsexemplar wurde mir vom Verlag zur Verfügung gestellt. Vielen Dank. Meine Meinung hat dies nicht beeinflußt.